ORF, März 2006 http://oe1.orf.at/highlights/53602.html Der Drehleierspieler Porträt des Musikers Matthias Loibner Matthias Loibner ist einer von weltweit vier oder fünf professionellen Drehleierspielern. Sein Repertoire reicht von virtuoser Barockmusik bis zu Jazz und experimenteller Avantgarde. Bandleader und Konzertveranstalter schätzen seine profunde Kenntnis verschiedener Musiktraditionen - und seine Fähigkeit, an unterschiedlichste Spielweisen anzuknüpfen. (c) Loibner Ungewöhnlicher Matthias Loibner Freude an Volksmusik Die Geschichte könnte Ende der 1980er Jahre an der Grazer Musikuniversität (damals noch Hochschule) beginnen. Loibner, Jahrgang 1969, studiert Komposition, dazu Klavier, Geige und Posaune. Und leidet unter der Enge und Strenge im akademischen Musikbetrieb: "Wenn einer ernst schaut, ist er ein Profi, wenn er lacht, ist er Amateur." Loibner findet die vermisste Freude am Spielen und Hören in der Volksmusik, mit all ihrer Unzulänglichkeit: "Ich war immer der Meinung, diese Musikanten wissen ganz genau, was sie machen." Er beschäftigt sich intensiv mit verschiedener tradierter Musik, geht Takt für Takt Aufnahmen durch: "Was man in der Volksmusik zuerst aufnimmt: Hier ist ein trauriges Stück, da ein fröhliches - das wird nicht über die Notation vermittelt, sondern über Feinheiten: das Anschleifen von Tönen, wie sauber oder wie kratzig, wie jammernd sie klingen." Das Instrument studieren Loibner verlässt die Hochschule, gründet die Volksmusikgruppe "Wullaza", später die experimentelle Folk-Gruppe "Deishovida". Irgendwann fällt ihm eine Drehleier in die Hände. Er bringt sich selbst das Spielen bei (Lehrer gibt es keine), entwickelt seine eigene Technik - erst viel später erfährt er, wie dieses oder jenes traditionell "richtig" gemacht wird, aber das selbst Erfundene erweitert seine spielerischen Möglichkeiten. Loibner absolviert zwischendurch die Instrumentenbauschule in Hallstatt, um die Anatomie seines Instruments zu studieren, übt acht Stunden am Tag. "Eine Trotzhaltung." Denn immer wieder hört er die Frage: Warum spielst du nicht ein vernünftiges Instrument? Eine Trotzhaltung aber auch gegenüber einer Folk-Szene mit merkwürdig umgekehrten Maßstäben, in der viele Musiker "nur nach Gefühl" spielen und "nichts analysieren, nichts systematisch dazu lernen wollen". Per Zufall zur Barockmusik 1994 gewinnt der Autodidakt den ersten Preis beim Wettbewerb im französischen St. Chartier. Ein weiterer Zufall (das Ensemble "Le concert spirituel" sucht einen notenkundigen Drehleierspieler) bringt ihn zur Barockmusik. Eine Welt tut sich auf: Vor 250 Jahren gab es schon einmal Musiker, die genauso konzentriert mit der Drehleier gearbeitet haben wie Matthias Loibner heute. Damals entstand virtuose Musik, die heute kaum jemand spielen kann. Loibner nimmt CDs auf, gibt Konzerte in der ganzen Welt, unterrichtet, arbeitet mit namhaften Ensembles Alter Musik. Eigenes verwirklichen Im Sommer 2005 zieht Loibner einen Schlussstrich unter die Existenz in Flugzeugen und Tournee-Bussen. Nimmt sich viel Zeit, um eigene Vorhaben zu realisieren: ein Album mit Liedern aus Südosteuropa mit der bosnischen Sängerin und Schauspielerin Natasa Mirkovic-De Ro. Experimente mit elektronischen Verfremdungen und dazu ein Trickfilm, gemeinsam mit dem deutsch-australischen Perkussionisten Tunji Beier. Und das aufwändigste Unterfangen: Die Erforschung und Rekonstruktion eines Instruments, für das Joseph Haydn einst im Auftrag des Königs von Neapel mehrere Concerti und Notturni geschrieben hat – die "Lira Organizzata", eine Drehleier mit zusätzlichen Orgelpfeifen. Ein Jahr lang hat der Wiener Instrumentenbauer Wolfgang Weichselbaumer daran gebaut, im Sommer 2006 sollen Loibners Haydn-Aufnahmen auf CD erscheinen. Unter Loibners Projekten ist auch ein Solo-Album mit Eigenkompositionen. Aufnahmen mit den ungewohnten Klängen eines kaum bekannten Instruments: schroff, schrill, dann wieder warm, fast zärtlich, reich an Farben und Obertönen. Klangfassetten, an denen Matthias Loibner unermüdlich arbeitet. Um Gültiges zu schaffen. Text: Johann Kneihs